Commerzbank-

Wachstumsprognosen bis Jahresende:

1,5% für Deutschland, 2,4% für den Euroraum, 2,5% für die USA

Frankfurt/Main (10.6.22) – Die Volkswirte der Commerzbank erwarten, dass das Wachstum der deutschen Wirtschaft bis in den Herbst hinein schwach ausfallen wird. Die Auftragseingänge bei der Industrie, insbesondere aus dem Ausland, sind zuletzt den dritten Monat in Folge deutlich gefallen. Besonders die Nachfrage in China – dem wichtigsten deutschen Handelspartner – hat sich aufgrund einer strafferen Geldpolitik und nach mehrmaligen Lockdowns im Zuge der Null-Covid-Politik der Regierung deutlich abgeschwächt. Nach Einschätzung der Commerzbank-Volkswirte dürfte die chinesische Regierung bis Jahresende hinsichtlich der Pandemie nicht maßgeblich davon abrücken. Außerdem führen Lieferengpässe in den meisten Industriesektoren zu sinkenden Bestellungen von Vorprodukten.

„Der Auftragsboom ist zunächst vorbei. Auf der Entstehungsseite beobachten wir eine sich weiter öffnende Schere zwischen dem Dienstleistungsbereich und dem verarbeitenden Gewerbe: Während sich der Dienstleistungssektor erholen konnte, leiden die Industrie und das verarbeitende Gewerbe noch immer unter den Lieferkettenproblemen als Folge der weltweiten Pandemie. Hinzu kommt die hohe Unsicherheit durch die Folgen der russischen Invasion in der Ukraine.  – Trotz aller Schwierigkeiten droht Deutschland aber keine Rezession – sofern es zu keinem Lieferstopp für russisches Gas kommt“. Chefvolkswirt Dr. Jörg Krämer.

Industriesektor bremst deutsche Wirtschaft

Obwohl die Nachfrage nach industriellen Produkten ungebrochen hoch ist und auch die Automobilproduktion nach Angaben des VDA zuletzt um 6% zulegen konnte, wird der Industriesektor die deutsche Wirtschaft vorerst bremsen. Die hohen Preise für Gas, Öl, Energie sowie einzelne Vorprodukte bürden den Unternehmen wie auch privaten Haushalten hohe Kosten auf. Die Volkswirte der Commerzbank rechnen deshalb in Deutschland für 2022 mit einem Wirtschaftswachstum von 1,5%, für den Euroraum mit 2,4%.

EZB ebnet Weg für Zinserhöhungen

Die EZB hat in ihrer gestrigen Sitzung angesichts der hohen Inflationsraten den Weg für eine Reihe an Zinserhöhungen geebnet. „Wir erwarten, dass die EZB bis Mai 2023 schrittweise den Einlagenzins auf 1,5% erhöht. Doch auch wenn dies das Ende der Nullzinsära bedeutet, bleibt die EZB nach unserer Einschätzung auf absehbare Zeit hinter dem zurück, was notwendig wäre, um die Inflation konsequent auf 2% zu begrenzen. Auch deshalb rechnen wir mittelfristig mit einer Inflation, die über dem Zielwert der EZB liegt“, erläutert Dr. Jörg Krämer.

Gekommen, um zu bleiben: Inflation

Die Inflation hat in Deutschland im Mai eine Rate von knapp 8% erreicht, im Euroraum lag sie sogar leicht darüber. „Die Inflation wird wohl bis Jahresende auf ähnlichen Niveaus bleiben“, so Dr. Jörg Krämer. Angefacht durch den Krieg Russlands gegen die Ukraine bleibt der Preisauftrieb für Benzin, Gas, Heizöl und Energie bis dahin bestehen. Erst im kommenden Jahr dürften die Energiepreise wieder weniger dynamisch steigen. Das sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die unterliegende Teuerung – also die Kerninflation (ohne Energie und Nahrungsmittel) – den Commerzbank-Volkswirten zufolge weiter kräftig anziehen wird. Denn die hohen Energiepreise schieben – bereits jetzt und mit einer gewissen Zeitverzögerung – auch die Preise für alle anderen Güter an. Ohnehin hat sich der unterliegende Inflationsdruck durch die Lieferkettenprobleme spürbar verstärkt. „Auch andere Faktoren sprechen längerfristig für einen starken unterliegenden Preisauftrieb: Der immer enger werdende Arbeitsmarkt dürfte die Gewerkschaften in die Lage versetzen, in kommenden Tarifrunden höhere Löhne durchzusetzen. Außerdem hat die Pandemie bewirkt, dass in den vergangenen Jahren zu viel Liquidität in den Umlauf kam, was die Inflation noch einige Zeit antreiben wird“, erklärt Dr. Jörg Krämer. Hinzu kommen strukturelle Faktoren wie der sinkende Anteil der Arbeitsbevölkerung in vielen Weltregionen, die Kosten des Kampfes gegen den Klimawandel sowie die Folgen der De-Globalisierung.

USA: „Friend-Shoring“ als handelspolitische Strategie?

In den USA grassiert die Angst vor einer Rezession. Zuletzt hat sich die Wachstumsdynamik abgeschwächt und die Risiken für ein solches Szenario sind gestiegen. Die Inflation notiert mit zuletzt 8,3% ähnlich hoch wie in Deutschland. Die wirtschaftliche Erholung ist weit vorangeschritten, der Arbeitsmarkt ist leergefegt und die Löhne steigen. Aus Sicht von Commerzbank Research sind dies mögliche Gründe für die Fed, die Zinsen noch weiter anzuheben, was vielfach Rezessionsrisiken schürt. „Die US-Wirtschaft dürfte in der zweiten Hälfte nächsten Jahres gefährlich nah an die Rezessionsschwelle kommen“, so Dr. Jörg Krämer.

Die anhaltenden Probleme in den Lieferketten, der Krieg Russlands gegen die Ukraine und die Haltung Chinas dazu haben die USA veranlasst, eine neue handelspolitische Strategie des so genannten „Friend-Shoring“ zu erwägen. Dahinter steht die Idee, dass die USA und ihre Partner mehr Kontrolle über kritische Lieferketten übernehmen sollten, indem sie ihre Handelsbeziehungen von strategischen Konkurrenten weg verlagern. „Diese neue Strategie steht im Gegensatz zur Politik der vergangenen 60 Jahre, bei der westliche Staaten versuchten, politisch anders gesinnte Länder durch Handel in ihre Politik einzubinden. Sollte das Konzept unter Industrieländern Schule machen, wird Friend-Shoring den globalen Handel neu ordnen: Westliche Industrieländer, allen voran die USA, würden sich weiter von China, Russland und anderen Ländern mit einem anderen „Mindset“ entfernen“, erläutert Dr. Jörg Krämer. Im Gegenzug würde die Verbindung zwischen Nordamerika und Europa enger werden.