Helaba: Weltkonjunktur als Gratwanderung zwischen Abgrund und Höhenrausch

Frankfurt/Main (22.11.22) – Es hat Kultstatus und gleicht eher einer Theaterinszenierung statt einer datenlastigen Prognose, wenn die Chefvolkswirtin der Landesbank Hessen-Thüringen (Helaba), Dr. Gertrud Traud, im Spätherbst ihre Konjunktur-Vorhersage vorlegt. Dieses Mal hat sie Ihre Konjunkturvorhersage mit einer riskanten Bergtour mit allen damit verbundenen abenteuerlichen Reizen und Gefahren verglichen, mit einer Gratwanderung. Läuft’s gut, gipfelt eine Bergtour in einem Höhenrausch, mißlingt sie, droht der Absturz.

Die Welt­wirtschaft bewege sich auf einem schmalen Grat. Der Blick nach vorne lasse selbst erfahrenen Berg­wanderern den Schweiß auf die Stirn treten, heißt es in der Pressemitteilung der Helaba und weiter: Abgründe klaffen zu beiden Seiten dieses Grats, auf dem die globale Konjunktur voran stolpert. Gleichzeitig müssen Entscheidungen über den weiteren Routen­verlauf unter Zeitdruck und mit unvollständigen Infor­mationen getroffen werden. Die Heraus­forderungen für die „Sherpas“ in Noten­banken und Regierungen waren selten größer als heute. All dies spannt den Bogen für den Konjunktur- und Kapital­markt­ausblick, der in diesem Jahr die Bergwelt als Sinnbild gewählt hat.

Vorstellbar ist für die meisten derzeit vor allem der Absturz, also eine tiefe Rezession, dem Helaba Research & Advisory mit 30 Prozent eine relativ hohe Wahr­scheinlich­keit beimisst. Kaum vorstellbar scheint ein baldiges Aufklaren mit viel Sonnen­schein. Solche Wetter­wechsel sind in der Bergwelt aber jederzeit möglich. Unter dem Begriff Familien­tour erhält dieses Szenario aber nur eine Wahr­scheinlichkeit von 10 Prozent. Die höchste Wahr­scheinlichkeit von 60 Prozent messen unsere Volks­wirtinnen und Volkswirte dem Basis­szenario Grat­wanderung bei.

Basis­szenario: „Grat­wan­der­ung“

Eintrittswahr­scheinlich­keit 60 Prozent

Die Ereignisse des Jahres 2022 und der Ausblick für 2023 sind von den sich überlagernden Faktoren Ukraine/Energiekrise und den Nach­wirkungen der Pandemie bestimmt. Letztere sind nicht verschwunden, sondern werden auch 2023 eine wichtige Rolle spielen. Die glo­balen Liefer­ketten haben sich noch nicht normalisiert und Veränderungen im Verbraucher­verhalten sind vielerorts erst partiell korrigiert. „In Deutschland werden wir 2023 eine Rezession sehen“, erklärt Dr. Gertrud Traud, Chefvolkswirtin der Helaba. „Dabei gehen wir davon aus, dass der Krieg in der Ukraine andauert und die Energie­preise in Europa erhöht bleiben, obwohl neue Liefer­quellen gefunden werden und Einspar­bemühungen Erfolge zeigen“, so Traud weiter.

Die großen Wirtschafts­blöcke USA und Eurozone durchlaufen eine Rezession, kommen aber im Jahres­durchschnitt 2023 noch auf leicht positive Wachstumsraten von 0,5 Prozent bzw. 0,2 Prozent. Die deutsche Wirtschaft schrumpft um 0,6 Prozent. Trotz der schwachen Konjunktur geht die Inflation nur graduell zurück. In Europa bleibt die Energie­knappheit ein wichtiger Faktor. Die Verbraucher­preise steigen in Deutschland um 6 Prozent, in der Eurozone um 5,3 Prozent und in den USA um 4 Prozent – weniger als 2022, aber deutlich oberhalb der Zielwerte der Notenbanken.

Fehl­tritte rächen sich

Auf einer Grat­wander­ung sind Fehltritte häufig folgen­reicher als bei einem Waldspaziergang. Entsprechend wichtig sind daher richtige politische Entscheidungen. Die Noten­banken sehen sich vor der Herausforderung, die Inflation mit genau der richtigen Dosis Straf­fung in den Griff zu bekommen, ohne eine unnötig schwere Rezession auszulösen. Hier zeichnet sich ein Ziel­konflikt mit den Regierungen ab, die versuchen, die negative Wirkung der hohen Inflation auf die Real­einkommen zu kompensieren. Diese Maßnahmen können bei falscher Ausgestaltung Fehlanreize nicht nur hinsichtlich des Energiesparens setzen – und damit indirekt sogar Aufwärts­druck auf die Preise erzeugen.

Auf außen­politischer Ebene zeichnet sich die Tendenz zu einer wirtschaft­lichen Block­bildung ab, mit China und den USA als jeweiligem Kern. „Statt einer echten De­globali­sierung, die ein Risiko bleibt, sehen wir zumindest derzeit lediglich eine Neuordnung der Globalisierung“, erläutert Dr. Traud. Dafür spricht der stärkere Anstieg des Welthandels relativ zur Produktion seit 2020. Begriffe wie „reshoring“ oder „friend-shoring“ sind zwar in den Medien präsent, prägen aber noch nicht das Verhalten der Unternehmen. Hier stehen bislang weiterhin Effizienz und verstärkt Diversi­fikation der Liefer­ketten im Fokus.

Alter­nativen für den An­leger

Der Sturm bei Renten flaut ab. Spätestens zur Jahresmitte sollten die Leitzinsen das zyklische Hoch erreichen. Dies gibt Spielraum für sinkende Kapital­markt­zinsen im Jahresverlauf. Die Rendite 10-jähriger Bundesanleihen wird in der ersten Jahreshälfte 2023 die Jahreshöchst­stände markieren und Ende 2023 bei etwa 2,3 Prozent notieren.

Aktien haben die Fülle an Belast­ungen bereits eskomptiert. Die wichtigsten Bedingungen für eine Boden­bildung sind erfüllt: Günstige Bewertung, sehr negative Konjunktur­erwartungen, pessi­mistische Stimmung der Anleger und eine technische Überverkauft-Situation. Da Aktien der Konjunktur im Durch­schnitt ein halbes Jahr vorauslaufen, steuert der DAX bis Jahresende 2023 die 16.000er Marke an.

Immobilien leiden stärker unter den gestiegenen Zinsen als unter der Rezession. Am Wohnungs­markt kommt es zu einer moderaten Preiskorrektur. Im gewerblichen Bereich werden sich Büros robuster zeigen als Einzelhandels­immobilien, denen der enorme Kaufkraft­verlust durch die hohe Inflation zu schaffen macht.

Gold belebt sich 2023, da es zur Inflations­absicherung wieder stärker nach­gefragt ist. Sobald sich das Ende der Zins­erhöhungen abzeichnet, festigt sich der Preis in Richtung 1.900 US-Dollar je Feinunze.

Der US-Dollar kann seinen Höhen­flug nicht fortsetzen, da die Zins­erhöhungen der US-Notenbank auslaufen und er als Flucht­währung weniger gefragt ist. Der Euro-Dollar-Kurs notiert zu Jahresende um 1,10.

Negatives Alternativ­szenario „Ab­sturz“

Eintritts­wahr­scheinlich­keit 30 Prozent

Als Auslöser für den konjunkturellen Absturz steht eine geo­politische Eskalation im Fokus. Deutschland und die Euro­zone geraten in eine tiefe Re­zession, während die USA als Netto­energie­exporteur und China als Nutznießer von billigen russischen Rohstoff­importen weniger stark im Mitleiden­schaft gezogen werden. Aktien korrigieren stark und die Renditen am Rentenmarkt sinken deutlich. Die Immobilien­preise gehen ebenfalls kräftig zurück. Der US-Dollar und der Goldpreis steigen krisen­bedingt.

Positives Alternativ­szenario „Familien­tour“

Eintritts­wahr­scheinlich­keit 10 Prozent

Notwendige Bedingung für eine „Familientour“ ist eine geopolitische Entspannung, die die Risiko­prämien an den Finanz­märkten fallen lässt. Zumindest kurzfristig nimmt der Preisdruck dank niedrigerer Energiepreise ab, so dass die Geldpolitik nicht deutlich restriktiver wird. Die Renditen am Renten­markt nehmen daher nur leicht zu, während die Aktienkurse noch dynamischer steigen. Der Immobilien­markt stabilisiert sich. Gold und der US-Dollar sind als „sicherer Hafen“ weniger gefragt.